„Denk ich an Deutschland in der Nacht“

Dirk Kamella ist Konzertveranstalter aus Leidenschaft und wollte 2020 größere Konzerte im Kulturpalast und in der Jungen Garde organisieren. Nun lässt er tief blicken und berichtet von seinen Erfahrungen der letzten Monate.

Zwangspause mit Beerdigungsgedanken: Veranstalter Dirk Kamella kämpft wie so viele Kollegen mit Existenzängsten und hofft auf einen baldigen Neustart der Kulturbranche.
Zwangspause mit Beerdigungsgedanken: Veranstalter Dirk Kamella kämpft wie so viele Kollegen mit Existenzängsten und hofft auf einen baldigen Neustart der Kulturbranche. © privat

Die Pandemie ist allgegenwärtig, die Kulturbranche quasi stillgelegt. Dirk Kamella vom gleichnamigen Event- & Kulturmanagement schildert nun ganz offen seine persönliche Situation:

„Neun Monate Stillstand, keine Planungssicherheit, keine Perspektive, vom SchaustelIer, Künstler, Kulturschaffenden bis hin zu Theatern, Klubs und Konzerthallen; die Kreativwirtschaft liegt am Boden, wurde gezielt stillgelegt. Jegliche Art der Geselligkeit, Freude, Kommunikation und Zusammenkünfte sind nicht erwünscht. Mittlerweile findet eine Verwesung der Kultur statt und die Seele einer ganzen Nation wird demontiert. Mit welcher Empathie unsere Volksvertreter an die Erarbeitung von Gesetzen und Verordnungen herangehen, erkennt man daran, dass Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, untersagt sind.

Erfahrungen mit den Behörden

Mein Fazit nach neun Monaten: Drei-Fünf-Null-Null-Null-Null Euro Umsatzverlust und Sieben-Null-Null-Null-Null Euro betriebswirtschaftlicher Schaden. Die seelischen und emotionalen Schäden der Menschen können wahrscheinlich nicht aufgearbeitet werden. 23 SOS-Briefe eines Soloselbstständigen mit detailliert belegten Vergleichszahlen der letzten drei Jahre meines Konzertgeschäfts gingen via Einschreiben und Rückschein im Zeitraum Juni bis August 2020 an die Bundes- und Landesregierung. Zwölf Antworten mit den Hinweisen auf behördliche Hilfen liegen mir vor. Die restlichen elf Briefe blieben unbeantwortet.

Besonders hilfreich waren die Aussagen eines CDU-MdB: ,, . . . Die geplante Umsatzsteuersenkung wird Ihnen den Neustart hoffentlich erleichtern. Für Sie interessant ist wahrscheinlich insbesondere der Punkt Überbrückungshilfen für KMU.“ Zur Erklärung: Die Senkung der Mehrwertsteuer von sieben Prozent auf fünf Prozent beim Ticketpreis hätte ich gern an die Besucher weitergegeben. Allerdings blieb der Ansturm aus. Die Mehrwertsteuersenkung von 19 Prozent auf 16 Prozent bei den sonstigen Kosten zeigte bislang keine Wirkung, da Konzerte nicht stattfinden dürfen. Die Überbrückungshilfen decken nicht einmal die Kosten für die Krankenkasse. Von der Novemberhilfe ist bisher noch kein Geld geflossen. Der Versuch, drei Konzerte unter Pandemiebedingungen 2020 durchzuführen, scheiterte durch fortlaufende Neuverordnungen und Verbote der jeweiligen Länder. Ein weiteres Konzert musste trotz eigens dafür erarbeiteten Hygienekonzeptes abgesagt werden, da die sonst zahlreichen Besucher aus Angst vor dem Virus keine Tickets kauften.

Das Wiener Neujahrskonzert im Nikolaisaal Potsdam 2019. Jetzt im Januar sollte es auch im Dresdner Kulturpalast stattfinden.
Das Wiener Neujahrskonzert im Nikolaisaal Potsdam 2019. Jetzt im Januar sollte es auch im Dresdner Kulturpalast stattfinden. © PR

Zukunftskonzepte für drei Jahre

Zwei Tourneen, „Die vier Jahreszeiten“ im Herbst 2020 und „Best of Classic – Das Wiener Neujahrskonzert“ im Januar 2021 mussten verlegt werden. Die bis zur Verlegung entstandenen, nicht unerheblichen Werbekosten werden also noch einmal anfallen.

Meine Bewerbung bei der Initiative Musik – NEUSTART KULTUR beim Bund zur Durchführung von fünf Konzerten unter Pandemiebedingungen im April 2021 wurde positiv beschieden. Da jedoch dabei kein Unternehmerlohn gefördert wird, werden sich auch diese fünf Konzerte für den Veranstalter als Minusgeschäft erweisen, wenn wir denn spielen dürfen.
Wie sich die Maßnahmen auf die Eventbranche auswirken, verdeutlichen diese Zahlen: Die Kreativbranche generiert jährlich 2,89 Millionen Veranstaltungen mit einem Umsatz von 210,7 Milliarden Euro für 826,3 Millionen Besucher, sie umfasst 3,01 Millionen Erwerbstätige in 320 956 Unternehmen mit 154 Tätigkeitsfeldern und Branchenzweigen sowie 56 Arten von Veranstaltungsorten. Es müssen jetzt bundesweit tragfähige Zukunftskonzepte für alle betroffenen Branchen für mindestens drei Jahre auf den Tisch. An diesem müssen sowohl Betroffene als auch unabhängige Wissenschaftler zu Wort kommen, nicht nur genrefremde Politiker. Wenn das nicht funktioniert, kann ich nur Heinrich Heine bemühen: ,,Denk ich an Deutschland in der Nacht ...“ (tv)

www.wienerneujahrskonzert.de

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